Jamyang Ling Schulgebäude

Lynn mit Klasse 8 nach Ichar

Lynn und eine Schülerin

Lynn Klinger in Jamyang Ling

Ein Sommer in Reru

12/2009

Reru, Reru - wo soll ich bloß beginnen? So viel mit so wenig - so viel für so wenig. So viel für mich. Viel Gutes und auch Schlechtes. Mir liegt alles dort sehr nah am Herzen. So viel wurde mir gegeben von so vielen Seiten. Wenn ich jetzt wieder hinfahren würde, verhielte ich mich aber anders, den Menschen und Umständen gegenüber. Asienreiseerfahrung (6 Monate danach) macht schon viel aus, ich würde mit anderen Augen sehen.

In Leh begann alles. Von Anfang an fühlte ich mich wohl in dieser Kultur. Alles bunt, Menschen und Läden. Kühe laufen über die Straßen, kleine Rikschas kurven hupend darum herum. Lachende Menschen, arbeitende Menschen, feilschende Menschen, Menschen, die die Nase hoch tragen, bettelnde Menschen, alles. Frauen, die an der Straße hocken und getrocknete Aprikosen verkaufen. Hoch oben der thronende Königspalast. Stupas und Gebetsfähnchen. Diese Weite, diese Kahlheit, dieses Licht!

Nachts liege ich im Bett und horche auf das Etwas, das sich auf meinem Dach zu schaffen macht und auf die bellenden, wilden Hunde in den Gassen, die tagsüber an den Ecken dösen und sich ausruhen.

Dann ist es soweit, mit dem Jeep geht es auf Richtung Reru. Ein Tag, eine Nacht, 9 Leute in den Jeep gequetscht bis Padum. Ein paar Tage bleibe ich noch bei Karma und seiner Familie in Gyapak, lerne über die Lebensweise der Menschen, die Einfachheit, die große Gastfreundlichkeit, das sich-arrangieren-mit-den-Umständen. Ich esse zum ersten Mal Reis mit Dal und hausgemachte Momos (und werde bei dem Versuch, sie zu formen von der ganzen Familie herzlich ausgelacht), trinke Unmengen von Butter- und Milchtee („Cha”). Ich höre die Yaks brummen, Kinder kreischen, Stimmen, die mit heiseren Rufen die Tiere antreiben, und die Stille. Ich benutze wie alle die traditionelle Ladakhi-Toilette: ein Loch im Boden, daneben ein Erdhaufen, von dem man in das Loch seinem Geschäft ein paar Krümel hinterherstreut.

Mein Fotoapparat und die Gitarre, die ich mithabe, werden von den Kindern lebhaft entdeckt.

Schließlich habe ich mich genug ausgeruht, mich mehr an die Höhe gewöhnt, und es ist Zeit weiterzufahren. Der Jeep holpert über die Schotterstraße, die gerade geteert wird. Straßenarbeiter aus Bihar starren mich aus dunkelbraunen Augen an, ich komme mir vor wie die weiße Massai. Dann kommt Reru, mein Mitfahrer sagt: „Your village!”(„dein Dorf!”). Und die Schule. Ja, ich erkenne die Gebäude, denn ich habe sie schon auf Fotos gesehen. Dahinter sitzen Schüler in Gruppen auf dem Boden im Staub und schreiben: die vorletzten Examen des Schuljahres, wie ich später erfahre. Jemand kommt den Weg herauf: Sir Karma Rinchen, seit dem Jahr 2009 Schulleiter an der Jamyang Ling Model School, Reru, Zanskar, heißt mich willkommen. Er führt mich zu einem Zimmer des Lehrergebäudes, das nun für einige Zeit das Meine sein soll. Ob ich denn außer Englisch noch etwas anderes unterrichten könnte? Computer? Science? Hier ein Tee und tschüss- ich habe jetzt Zeit für mich. Die Schüler haben Pause, neugierig versuchen sie durch die Vorhangritzen des Zimmers im ersten Stock Blicke auf mich zu erhaschen: die neue Lehrerin? An diesem Tag habe ich noch etwas Zeit, ich esse Mittag in der Küche (das Standardessen Reis mit Dal) und erkunde die Umgebung.

Am nächsten Morgen geht dann alles ganz schön schnell. Um 10:00 Uhr ist die Schulversammlung mit dem Morgengebet, dort werde ich als „neue Lehrerin” vorgestellt. Danach gehe ich zum Schulleiter ins Büro- was gibt’s zu tun? Er schreibt etwas auf, was sich als mein Stundenplan herausstellt; in 10 Minuten geht’s los. Ich habe vier Klassen: UKG, Klasse 1, 3 und 5. Außer in Klasse 1, wo ich Science unterrichten soll, weil die Lehrerin krank geworden ist, bin ich Englischlehrerin. Außerdem soll ich Computer unterrichten, aber das Gerät ist im Moment zur Reparation nach Leh geschickt und das Projekt muss auf später verschoben werden. Es werden noch zwei Bücher ausgegraben von zwei der Klassen, die ich unterrichten soll. Und dann die Glocke, da ist die Klasse, los geht’s! Ich hole tief Luft und gehe hinein.

Den Rest des Tages verbringe ich damit, mich spontan durch die Unterrichtszeiten zu boxen, herauszufinden, wo die Schüler mit dem Stoff stehen , was gelernt werden muss für die Jahresprüfungen in vier Wochen, wie die Schüler auf mich reagieren und wie ich überhaupt im Unterricht vorgehen kann. Das Ergebnis: Die Schüler reagieren (natürlich) ganz anders auf mich als sie es in einem westlichen Land tun würden, hier ist das Unterrichtssystem (das ich nun über die Schüler anstatt über die Lehrer kennenlerne) ein komplett anderes. Allein wie die Schüler mir begegnen, aber auch wie sie sich verhalten. Es ist nahezu unmöglich, offene Fragen beantwortet zu bekommen, stattdessen sind die Schüler es gewohnt, Dinge nachzusprechen. Die ganzen Ideen und Visionen, die ich mitbrachte, sind daher erst einmal zu streichen. Mit den Älteren fällt mir der Unterricht leichter, denn sie können mehr Englisch und ich kann so besser mit ihnen kommunizieren.

Langsam gewöhne ich mich ein, ein neuer Tag, die gleichen Klassen. Ich gewöhne mich an die Gesichter und an den Gedanken, die Schüler auf ihre Abschlussexamen vorzubereiten. Mit und ohne Strategien versuche ich, die Namen der Schüler zu behalten, die für mich erstmal alle ähnlich klingen, und, so scheint es, mit „Stenzin” beginnen. Ich staune über die unterschiedlichen Alphabete, die die Schüler lernen müssen: Ladakhi/Zanskari, Hindi, Englisch, Urdu. Und viele Lehrer sind Tibeter; deshalb ist auch Tibetisch im Umlauf. Eigentlich wollte ich mich ja bemühen, die Sprache der Menschen hier zu lernen, aber angesichts der Sprachvielfalt versinke ich im Chaos. Ein Schlüsselbegriff den ich zu rufen lerne während ich die Hände über meine Essschüssel halte:” Dig, dig-le!”(„Genug, genug!”)- um zu verhindern, dass mir von den gastfreundlichen Menschen, die doch selber fast nichts haben, mit einem „Don, don!” („Nimm, nimm!”) zum fünften Mal der Teller vollgehäuft wird.

Dann kommt der „children’s day”- der wichtige Tag für alle Kinder in Indien. In Reru bedeutet das Schulfrei mit Programm: für den Abend haben alle Lehrer viele verschiedene Aufführungen geplant: Tänze, Theatereinlagen und improvisierte Shows. Meine Gitarre kommt zum ersten Mal richtig zum Einsatz! Eng aneinandergekuschelt und in bunte Decken gehüllt schauen die Kinder zu. Danach beginne ich meinen Plan, die Gitarre mit in den Unterricht einzubringen, Jeder Klasse bringe ich passend zum Unterrichtsstoff ein Lied bei: UKG lernt „Good morning oh what a sunny morning” für Wetterbegriffe, Klasse 1 passend zum Tierthema „Old McDonald had a farm”, Klasse 3 Reime zu den Körperteilen und Klasse 5 „How many roads” für die Unterscheidung zwischen „how much” und „how many”. Es wird zu einem Ritual, mit diesen Liedern die Stunde anzufangen. Nur mit Klasse 5 schaffe ich es zur Gitarre - hier lasse ich die Schüler auch selber mal versuchen zu klimpern und sie sind enthusiastisch dabei! Vielleicht wären Musikstunden eine gute Idee - wo die Schüler z.B. lernen, sich auf der Gitarre zu traditionellen Liedern zu begleiten. Auch eine gute Möglichkeit an Selbstbewusstsein und Gleichbehandlung von Mädchen und Jungs zu arbeiten- eine Zukunftsidee?

Den Morgen beginne ich mit einem Rundgang über den Berg. Mit jedem Atemzug sauge ich die Atmosphäre in mich ein, die karge Idylle. Hohe, majestätische Berge, kahl, ohne Bäume, Felsbrocken, zwischen denen Schafe und Ziegen hergetrieben werden, die meckern. Die hallende Stille, die Tragweite der Geräusche, die Stimmen, Geklapper und „Ha!”-Rufe herüberschickt. Der mit den Tagen immer türkiser und klarer werdende Fluss, der wie ein Juwel zwischen den braunen Staubhängen daherrauscht.

Es ist schon Mitte Oktober, immer kälter werden die Tage, vor allem morgens und abends. Oft unterrichten wir die Schüler draußen, da dort die Sonne scheint und es wärmer ist als in den eisigen Klassen. Meine Daunenjacke rettet mich, ich staune über nach kurzer Zeit gefrorene Spucke und Wassertropfen und über von zermürbender Arbeit und Sonne braun und stark gewordene Ladakhi-Hände, die mit dem Eiswasser aus dem Schlauch, der Wasserquelle für das ganze Dorf, ihre Wäsche waschen. Ich tue es ihnen gleich.

Frauen gelten hier als stärker als Männer. Sie tragen dreieckige geflochtene Körbe traditionell mit einem Riemen um die Stirn, sammeln Yakdung, den sie zu Fladen trocknen lassen, dass einzig Brennbare in dieser Höhe. Für den Winter sind sie von der Doksa gekommen, einem Platz weiter oben in den Bergen (Hochalm), wo sie den Sommer über unter sehr harten Umständen leben und Yaks/ Dzos hüten und z.B. für die Käseproduktion sorgen.

Ich erfreue mich an der Stimmenwelle, die morgens durch die Schülerschar läuft, wenn ich komme. „Good morning Miss!”, rufen sie. Überhaupt ist Respekt ein Aspekt, der mir hier sehr auffällt. Wenn ich das mit meiner Schulzeit vergleiche... Wie unglaublich wir doch mit den Lehrern umgegangen sind, jetzt frage ich mich, wie sie das nur ausgehalten haben. Hier ist das ganz anders, die Schüler bringen den Lehrern eine sehr große Höflichkeit entgegen. Es fängt an beim Grüßen und dem Sauberhalten der Klasse. Wenn der Lehrer hereinkommt, stehen sie von den Teppichen auf dem Boden auf und grüßen im Chor mit: „Good morning/ afternoon Miss/ Sir”. Während des Unterrichts sind sie meist leise und wollen auch wirklich etwas lernen. Wie oft haben die Schüler in Deutschland z.B. einfach keinen Bock und lassen sich das auch anmerken!

Mit Klasse 5 schaffe ich es immer mehr, Dialoge zu führen, frage sie z.B. nach Inhalten von Geschichten, die wir gelesen haben. Wenn sie es nicht verstehen, formuliere ich die Fragen einfacher oder geschlossener, um die Antwort zu erleichtern. Mit den anderen Klassen kann ich nicht so viel mündliche Arbeit machen: Klasse 1 kriegt viele Lückentexte zu unseren Themen, Klasse 3 einfach formulierte schriftliche Fragen. Manchmal funktioniert auch das mündliche hereinrufen, aber das ist eher die Ausnahme und wird ausgeführt von den guten Schülern - viele Mädchen sind viel zu schüchtern und wollen sich hinter ihrem Tuch verstecken. Der ganze Unterrichtsstil ist ein völlig anderer als ich ihn kenne: ein Großteil davon läuft über im Chor nachsprechen und stupide auswendig lernen. Aber wenn die Schüler etwas auswendig können, heißt das nicht gezwungenermaßen, dass sie den Sinn kennen. Das merke ich, wenn ich Fragen anders formuliert mit gleicher Bedeutung stelle, dann gibt es Schwierigkeiten. Mir wird klar, dass es schlichtweg unmöglich ist, den Kindern innerhalb von 6 Wochen einen anderen Lernstil beizubringen - nach all den Jahren, in denen sie an den alten gewöhnt waren. Aber etwas Auflockerung wie z.B. mit der Gitarre/ singen tut den Schülern gut und macht ihnen Freude, das schafft Motivation. UKG, die zweitkleinsten an der Schule, finde ich ein bisschen schwieriger. Sie sind noch kleiner, wollen spielen, sie sind sehr fantasievoll und lebendig. Dabei benutzen sie alles, was ihnen in die Hände kommt und verwenden es kreativ als Spielmaterial. Vielleicht tanzen sie mir auch manchmal auf der Nase herum, weil ich versuche, mich mehr durch Gesten und Pantomime zu verständigen als nur durch Englisch, das sie nicht gut verstehen, z.B. wenn ich Gegensätze wie groß-klein oder schwer-leicht vorstelle. Was dann hilft, ist ein Kartenspiel mit Bildchen. Was schon hier sehr auffällt: der Unterschied im Leistungsniveau.

Eine Sache erschreckt mich und verstört mich doch ein bisschen: als ich mitkriege, dass, wer frech war, auch mals eins hinter die Ohren bekommt, wahrscheinlich auch einer der Gründe für die Höflichkeit, nun gut. Bei geeigneter Situation spreche ich den Schulleiter darauf an. Seine Antwort: Er mache es nicht gerne, müsse es aber tun, da die Schüler sonst nicht die Notwendigkeit des Lernens sähen, schließlich könnten ihre Eltern ja auch nichts. Bei „uns” (Deutsche, Europäer, Westler...) wäre das anders, schließlich verstünden da die Kinder, dass sie das Wissen später einmal brauchen... seine Antwort kurz zusammengefasst. Ich versuche meine Gegenargumente vorzubringen, bin aber wenig erfolgreich. Trotzdem ich nicht einverstanden war, konnte ich danach das Handeln etwas besser verstehen. Und was ich trotz allem beobachten konnte: Trotz der Strenge hatten die Lehrer/ Schüler oft ein besseres Verhältnis zueinander als bei uns. Ich hatte den Eindruck, dass auf die meisten Lehrer Verlass ist, wenn die Schüler wirklich ein Problem haben. Und sie haben auch Spaß miteinander und necken sich gegenseitig. Gegen Ende der Schulzeit z.B. entstand ein spontanes Fußballspiel mit Lehrern und Schülern gemischt Und alle hatten Spaß!

Unterdessen habe ich volle Verantwortung. Ein paar Tage vor den Prüfungen erfahre ich, dass ich die Examenspapiere selber entwerfen muss, und sie später korrigieren sowieso. Na dann mal los - nur wie? Hätte ich das gewusst, hätte ich ja den Unterricht ganz anders strukturieren können. Hier gefragt und da geholfen - am Ende sind die Aufgaben fristgemäß fertig, ins Reine geschrieben und kopiert (den Kopierer hatte ich ja auch wieder in Schuss gebracht), mit Hilfe und Rat der anderen Lehrer.

Während der Examen muss ich schmunzeln. Wie anders doch alles ist verglichen zu dem, was ich kenne! Für die Woche, in der die Examen stattfinden, hat jede/r Schüler/in einen Platz zugewiesen bekommen, der beibehalten werden muss. Auf jeden Fall nicht neben einem Klassenkameraden: abgucken ist in jedem Fall vereitelt. So sitzen die Kinder im Staub des Bodens vor der Schule und blicken gespannt auf ihre Blätter, beginnen, auf dem Boden liegendes Papier zu schreiben. Zwischendurch wirbelt ein Windstoß Müll durch die Reihen, einmal galoppiert blökend ein Yak durch die Schülerschar.

Alles läuft gut über die Bühne, nachmittags wird neugierig kontrolliert, wie die Prüfungen gelaufen sind. Die Schüler sind alle nach Hause gegangen, sie haben eine Woche Ferien. Die Lehrer haben nun die Zeit und Geduld beanspruchende Aufgabe, Zeugnisse zu verfassen und elendlange Zahlenreihen in Registrierbücher zu schreiben (ohne jegliche Fehler, sonst muss alles neu gemacht werden!). Kontrolliert wird meine Arbeit nicht. Aber einige der Lehrer bieten mir ihre Hilfe an für den Fall, dass ich nicht weiter weiß. Davon mache ich auch hier und da Gebrauch, wenn ich mal wieder im Zahlenwust versinke. Mit dem Schulleiter diskutiere ich, welche Schüler in meiner Klasse weiterkommen, welche nicht. Als Klassenlehrerin der fünften Klasse habe ich dort die Verantwortung. Manchmal sind die Verhältnisse schwierig. Ein Mädchen hat die Punktzahl z.B. nicht ganz erreicht, müsste die Klasse aber schon zum zweiten Mal wiederholen. Ihr Vater lebt nicht mehr und sie muss den Haushalt für all ihre Geschwister schmeißen, weshalb sie sich einfach nicht zu Hause hinsetzt und lernt. Trotz allem hat sie sich verglichen zum vorherigen Jahr sehr verbessert. Wir lassen sie weiterkommen.

Dieses Ungleichgewicht, das man am Beispiel des Mädchens sieht, fällt mir öfters auf. Die Menschen in Reru leben in einer Welt, in der es sehr viel ums Überleben und die-täglichen-Dinge-getan-kriegen geht. Ist theoretisches Lernen dort manchmal der falsche Ansatz? Das frage ich mich, als ich (nach Buch) der ersten Klasse in Science beibringen soll, dass sie nach rechts und links sehen sollen, bevor sie die Straße überqueren, oder dass sie sich nicht aus dem Bus lehnen dürfen. Beides finde ich totalen Quatsch: Auf der Schotterstraße, die durch das Dorf führt, kommt zweimal am Tag ein Auto an (warum dann vor dem Überqueren nach rechts/links sehen?) und ich selbst bin schon zwei Stunden auf der offenen Ladefläche eines Treckers direkt am Abgrund entlang gefahren - hier gibt es einfach keine anderen Transportmöglichkeiten. Ampeln, die ich (laut Buch) auch erklären soll, gibt es noch nicht mal in Leh, der größten Stadt Ladakhs. Als ich mit dem Buch zum Schulleiter gehe, sagt dieser, dass die Schüler es vielleicht einmal brauchen, für die Examen oder wenn sie woanders Ferien machen. Ich frage mich, wie viele Familien im Dorf das Geld für letzteres haben. Wäre es nicht sinnvoller, die Kinder etwas zu lehren, was sie im alltäglichen Leben gebrauchen können, was auf das Leben in Reru abgestimmt ist? Die Wichtigkeit des Lernstoffes sollte abgewägt werden. Um in einer kargen Gegend wie dieser existieren zu können, wird Härte und Flexibilität gefordert um zu überleben. Alles wird genutzt, Gegenstände mehr wertgeschätzt und weiterverwendet. Alle arrangieren sich mit den Umständen. Z.B. wird am children’s day eine Ziege (direkt vor der Tür der Schule) geschlachtet. Das Fleisch wird sehr wertgeschätzt: Es wird mit einer Soße für die gesamten Kinder und Lehrer der Schule gekocht, alles wird genutzt, das Blut aufgefangen, die Knochen abgenagt. Man nimmt, was man kriegen kann und überlebt. Wie passen in dieses Bild Verkehrsordnungen mit Ampeln? Da es wahrscheinlich zu aufwendig wäre, ein Schulbuch umzukonzipieren, müssten die Lehrer Initiative ergreifen - aber ist das zu viel verlangt? Doch vermutlich würden die Schüler mehr Interesse zeigen, wäre der Unterricht realitätsgerechter und mehr auf die dortigen Verhältnisse bezogen.

Noch deutlicher bewusst wird mir der Unterschied zwischen meiner Realität und der der Ladakhis, als ich höre, dass die meisten Mädchen im Dorf am liebsten entweder einen Taxifahrer oder Soldaten heiraten würden - beides Berufe, die in ihren Augen am meisten Geld einbringen (ein günstiger Nebeneffekt könnte sein, dass der Mann dann viel weg ist).

Nach einer Woche Ferien kommt der letzte Schultag vor den ganz großen Ferien, an dem sich Eltern und Schüler versammeln, um die Ergebnisse der Jahresnoten der Schüler zu erfahren. Zu diesem Anlass muss ich, wie alle anderen Klassenlehrer auch, vor versammelter Dorfgemeinschaft die Noten der Schüler verkünden als auch den/die beste Schüler/in und den Klassenprozentsatz. Der einzige Unterschied ist, dass ich nicht bei den Lehrern sitzen darf, sondern einen „Ehrenplatz” im Sessel auf der Bühne bekomme, in dem ich mich gerne verkriechen würde. Als weiteren Dank für meine Arbeit bekomme ich am Ende einen Katak. Abends wird noch ein wenig im Esssaal der Schüler, der jetzt leer ist, denn die Schüler sind mittlerweile zu Hause, gefeiert.

Der Winter drängt; am nächsten Morgen geht es los. Der wunderschöne Trek von Reru nach Darcha in vier Tagen (über Cha, Kargyak und der Steinhütte kurz vor dem Shingo La), ein anderer Lehrer geht auch mit. Von dort aus fahren wir mit dem Bus nach Manali - und erreichen es einen Tag, bevor der Pass für den Winter zuschneit! Das Beeilen hat sich also gelohnt. Ich nehme die beste Dusche, die ich je hatte, nach 6 Wochen die erste. Jetzt beginnt für mich eine neue Phase.

Über Vieles was ich in Reru erlebt, mitbekommen und gehört habe, muss ich aber noch nachdenken. Erst viel später wurde mir klar, dass eine der wichtigsten Rollen des Volontärs das Beobachten ist. Von Außen zu kommen, Sachen aufzunehmen, erst einmal neutral zu sehen. Dabei spielt eine große Rolle, dass die Dinge dort ohne Vorurteil gesehen und auf dieser Basis beurteilt werden. Der zweite wichtige Punkt: Jemand außerhalb der „zanskarischen Gruppe” ist anwesend, und diese Anwesenheit repräsentiert (wenn auch nur ein wenig) die Richtung, aus der das Geld fließt. In meinen Augen bedeutet dies, dass sich alle beobachtet, vielleicht sogar geprüft fühlen und sich korrekter verhalten, alles läuft besser. Der Nachteil: die Makel können nicht aufgedeckt und danach vielleicht behoben werden.

Deshalb wäre es natürlich optimal, wenn das ganze Jahr über eine halbwegs kompetente Person anwesend wäre, die allen ein bisschen auf die Finger sehen könnte. Aber ich weiß, das ist schwierig: Wer z.B. aus Deutschland hätte Lust und die Mittel ein ganzes Jahr über in Reru zu wohnen? Die Menschen dort sind viel abgehärteter und an die Umgebung gewöhnt - und trotzdem sind z.B. bei dem besonders harten Winter im letzten Jahr einige Menschen gestorben.

Obwohl einiges, von dem ich berichtet habe, vielleicht nicht so positiv klingt, hatte ich eine sehr, sehr gute und erfahrungsreiche Zeit in Reru und wollte auf gar keinen Fall mit irgendjemandem diese Zeit tauschen. Auch wenn bei einigen Sachen geschludert wird, ist die zanskarische Kultur sehr reich und kostbar und den Lebensbedingungen angepasst. Ich hoffe sehr, dass sie lange fortbesteht, trotz der vielen westlichen Einflüsse, die oft so sehr bewundert und der nachgeeifert wird. Mit dem begonnenen Bau der Straße nach Padum und weiter wird sich Vieles ändern. Es wird gute Dinge geben, die das Leben der Menschen vereinfachen (wie jetzt z.B. der Gaskocher), aber auch Schlechte, die nur im ersten Moment als toll erscheinen.

Im Grunde meines Herzens habe ich eine sehr große Liebe für diese Kultur entwickelt, die mit Einfachheit und Herzensgüte die Welt meistert. Umso deutlicher sehe ich auch die Fehler dieser Kultur und wie sie zerstört wird und würde am liebsten alles in Bewegung setzen, um dies zu verhindern.

Dass trotz all der widrigen Umstände ein solches Schulprojekt überhaupt zustande gekommen ist und sich über so viele Jahre erhalten konnte, ist wunderbar. Die Schüler wollen wirklich lernen und etwas aus ihrer Zukunft machen, und ihnen dies zu geben ist ein großes Geschenk. Um die Welt besser zu machen, sind solche Projekte gerade richtig. Und das Gute wird weitergetragen: Ich sprach z.B. mit einer Schülerin die unbedingt Ärztin werden wollte. Ihr wird es ermöglicht, und sie kann den nächsten helfen! Albtraumgeschichten über staatliche Schulen habe ich genug gehört um zu wissen, dass eine private Schule an dieser Stelle wirklich weiterhilft. Ich konnte auch selber vergleichen: Als ich die achte Klasse nach Ichar zu ihren Abschlussexamen begleitete, konnte ich die Schule dort ins Auge fassen sowie die Schüler und Lehrer. Unsere Kandidaten der achten Klasse waren viel sicherer (so sicher, dass sie später aus den Heften mit dem Prüfungsstoff Flieger bauten und sie von der Brücke aus über den Fluss schickten, weil sie sicher waren, den Stoff nicht mehr zu brauchen). Die Prüfungsergebnisse sprachen auch für sich: unsere Schüler waren besser.

Und die Schüler kommen von überall her. Auf dem Trek übernachtete ich immer in Familien, deren Kinder Schüler von Jamyang Ling waren und bis kurz vor dem Pass Shingo La konnte ich mich noch über bekannte Gesichter (meine Schüler!) freuen, die aus den Türen herausschauten, wenn ich vorbei kam. Ich war froh in Reru an der Schule zu sein.

Und ich bin sehr dankbar, dass ich teilhaben konnte an dieser Kultur und diesem Projekt - und hoffentlich nicht zum letzten Mal.

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